Meine ganz persönliche Himmelfahrt

Erzähler:
Es ist Nacht. Kalt. Ein Bahnhof mit einer Bahnhofshalle. Auf einer Bank sitzt ein Reisender (a). Er ließt in einer Zeitung. Ein zweiter Reisender (b) kommt aus Richtung der Schienengleise und setzt sich auf die Bank.

B:            So ein Mist!
Regie:      a ließt weiter in der Zeitung.
B:            So’n Mist!
A:            Zug verpasst?
B:            Er kam nicht.
Regie:      A schaut zu B.
A:            Sie sehe aber gar nicht gut aus.
B:            (leicht wehleidig) Das selbe sagte meine Frau auch immer zu mir.
A:            Oh! … Sie haben ihre Frau verloren?
B:            Ja, … an den besten Freund.
A:            … Und … jetzt wollen sie alles hinter sich lassen?’
B:            … Das kann man so sagen. … (zu sich selbst)
Und Heinz meinte noch: „Das klappt tod-sicher!“
A:            Ihre Reise?
B:            Meine ganz persönliche Himmelfahrt.
A:            Ihre was?
B:           (zu sich selbst mit verträumtem Blick) … Ich lag so bequem auf der Schwelle, … nur das Köpfchen schaut über die Schiene.
A:            Was haben sie da gemach?
B:            Auf den Zug gewartet.
A:            Aber da hätte ja was passieren können!
B:            Was glauben sie wohl, warum ich mich da hingelegt habe?
A:           (flüsternd) Sie wollten ihrem Leben ein Ende setzen?
(normal laut) Das ist doch dumm von ihnen. … Züge haben immer Verspätung!
B:            Mein Zug hatte keine Verspätung, … er ist ausgefallen!
A:            … und wann kommt der Nächste?
B:            In 42 Minuten.
A:            … Nicht das sie den verpassen.
B:            Soll ich mich da jetzt schon hinlegen? … Wissen sie wie kalt es da ist? … Da könnte ich ja erfrieren!
A:           … Wie kann ich ihnen da nur helfen? …
Vorhin las ich eine Todesanzeige. … Moment
(a sucht in der Zeitung die Anzeige). … Ja, hier!
… “Du warst der rettende Engel für einen Ertrinkenden und gabst dafür dein Leben.“ …
(verträumt) Ist das nicht schön?
B:            Schön doof war der! … Ich sagte noch zu ihm: „Lass mich in Ruhe und schwimm weiter.
… Irgendwann war er dann nicht mehr zu sehen.
A:            Ach, … sie kannten den Mann?
B:            Flüchtig.
A:            … (kurze Pause) … Schon mit’m Seil versucht?
B:            Gerissen.
A:            Tabletten?
B:            … ‚ne ganze Hand voll.
A:            UND!?
B:            Die Falschen erwischt. … Aufputschmittel. … Konnte Tage lang nicht schlafen.
A:            Gasherd?
B:            Ich habe einen  E-Herd.
A:            Vom Haus gesprungen?
B:            Bin nicht schwindelfrei.
A:            Pulsadern?
B:            Blut kann ich auch nicht sehen.
A:            Also, dann kann ich ihnen auch nicht helfen!
B:           (leicht gereizt) Zug kommt nicht (steht auf), kalt ist es.
Helfen können sie mir auch nicht, und die ganze Nacht hänge ich auf dem Bahnhof herum. …
Mir reicht’s! … Ich gehe nach Hause. (geht)
A:            … Leute gibt’s! … Erschießen müsste man die! …
(hält innen und ruft hinterher) HEY!!!

ⓒ Michael Herzog (1995)

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