Wo Gott ist, da ist der Himmel

„Oma, die Sache ist so,“ sagt Silke am Telefon. „Christine und Max – die sind in meiner Klasse – die haben sich gestritten.“

„Worüber denn?“ will Oma wissen.

„Der Opa von Max ist gestorben. Da hat Christine gesagt: ‘Der ist jetzt im Himmel.’ Aber Max war ganz wütend. ‘Das ist gelogen!’ hat er geschrien. Sie haben ihn in eine Kiste gepackt und in der Erde vergraben!“ Also, Oma, wo ist er? Im Himmel oder in der Erde?“

„Ja“, sagt Oma  nach einer kleinen Pause: „Ich denke, sie haben beide recht. Er ist in der Erde und im Himmel.“

„Oma!“ Silke ist sprachlos. „Das kann doch gar nicht sein!“

„Warum denn nicht?“ antwortet Oma. „Der Max hat ja recht, wenn er sagt, dass sein Opa in einem Sarg – es wird ja wohl keine Kiste gewesen sein – begraben worden ist.  Und dass er in der Erde liegt -“

„Aber da ist doch grässlich!“ fährt Silke dazwischen. „In der Erde!?“ 

„Silke! Ich war noch nicht fertig!“

„Entschuldige, Oma!“

Oma holt Luft. „Silke, ich habe eine Frage für dich. Glaubst du, dass Gott alles geschaffen hat?“

„Ja, natürlich!“ ist die Antwort.

„Hat Gott denn auch die Erde geschaffen?“

„Aber klar! Oma, warum fragst du denn so leichte Sachen?“ Silke ist erstaunt.

„Nun denk mal nach, Silke,“ meint Oma, „wenn Gott auch die Erde geschaffen ist, dann ist er doch auch bei den Toten, die in der Erde sind. Oder?“

„Gott in der Erde?“ Silke versteht die Welt nicht mehr. „Bei den Würmern und all den schrecklichen Tieren, die da herumkriechen?“

Oma setzt wieder ein: „Also, wir haben doch schon mal darüber gesprochen, dass wir uns Gott nicht als einen alten Mann vorstellen dürfen, nicht wahr? Sondern dass Gott auch eine gewaltige Energie ist. Und die wirkt auf der Erde. Und in der Erde. Und im ganzen Universum. Darum gibt es keinen Ort, wo wir ohne Gott sind. Auch wenn wir gestorben sind, dann sind wir immer noch in Gottes Kraft.“

Silke hat aufmerksam zugehört. Schließlich sagt sie: „Wenn das so ist, dann ist der Opa von Max da unten in seiner Kiste ganz gut aufgehoben?“

„Ja, Silke, das hast du gut gesagt!“

Oma will gerade auflegen, da sagt Silke: „Oma, und was ist mit Christine?“

„Was soll mit ihr sein?“

„Na ja“, meint Silke, „sie hat doch gesagt, der Opa von Max ist im  Himmel. Und du hast gesagt, dass sie damit recht hat. Da stimmt doch was nicht!“

Oma kommt mit einer Gegenfrage: „Was meinst du denn, wo der Himmel ist?“

„Oma!! Das weiß doch jedes Kind,“ wundert sich Silke. „Himmel, das ist doch oben! Über den Wolken!“

„Wirklich?“

„Ja“, entgegnet Silke, „wo sollte er denn sonst sein?“

„Ich glaube“, sagt Oma, „dass der Himmel dort ist, wo Gott ist.“

„Der Himmel ist dort, wo Gott ist?“ wiederholt Silke. „Dann wäre der Himmel auch auf der Erde? Auch in der Erde? Irgendwie komisch!“

„Findest du?“ meint Oma. „Der Himmel, das ist doch, wo es uns wirklich gut geht, oder? Und wo könnte es uns besser gehen als bei Gott? Deshalb sage ich ja, wo Gott ist, da ist der Himmel.“

„Na ja, Oma“, Silke klingt nicht überzeugt. „Das werde ich Christine und Max mal erzählen.“

Am nächsten Tag ist Silke wieder am Telefon. „Oma“, sagt sie, „als ich ihnen das mit Gott und dem Himmel erklären wollte, sagten sie: Wir haben uns geeinigt. Und Max ist nicht mehr wütend.“

Oma ist überrascht: „Sie haben sich geeinigt? Wie denn?“

„Der Körper von Maxens Opa, der ist in der Kiste. Also in dem Sarg. Seine Knochen waren ja auch schon ganz bröselig. Aber die Seele von dem Opa, die ist im Himmel.“

„Ach so“, erwidert Oma, „das ist ja was ganz Neues!“

„Findest du?“ Silke merkt, dass Oma diese Erklärung nicht so toll findet.

„Also“, meint Oma, „was Christine und Max sich ausgedacht haben, das ist nichts Neues, sondern etwas ganz Altes. Die alten Griechen haben sich das auch schon so gedacht. Die Seele, sagten sie, ist etwas Ewiges und kommt von Gott. Der Körper, der ist vergänglich und wird wieder zu Erde. Wenn der Mensch tot ist, kehrt die Seele wieder zu Gott zurück.“

„Klingt doch gut!“ meint Silke. „Was hast du denn dagegen?“

„Ich finde, da wird was getrennt, was zusammengehört. Für mich sind Seele und Körper eine Einheit, und Gott kümmert sich auch um den Körper. Gottes Kraft hält alles zusammen.“

„Ach, Oma“ seufzt Silke, „das ist mir zu hoch.“

„Ich hab ja nur gesagt, was ich denke,“ meint Oma. „Hauptsache, Max ist nicht mehr wütend!“

„Hauptsache?“ 

„Ich denk mir das so: Max hatte seinen Opa sehr lieb. Und darum war er so wütend, dass sie ihn in eine Kiste gesteckt und in der Erde vergraben haben.“

„Vielleicht hat Max gedacht, sein Opa hätte was Besseres verdient?“, vermutet Silke.

„Könnte doch sein, oder?“ ergänzt Oma. 

„Oma!“ sagt Silke, „vielleicht ist der Opa ja ganz froh, dass er seine bröseligen Knochen los ist?“

„Silke!“, sagt Oma, du bist unmöglich!“

Ein Text aus der “Silke und Oma” Reihe von
ⓒ 2019 – Geiko Müller-Fahrenholz

Print Friendly, PDF & Email